- Gerechtigkeit
- 1. Begriff: Als brauchbarste Definition kann auch heute noch die Formulierung des römischen Juristen Ulpian (170–228 n. Chr.) gelten: „G. ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“. G. regelt die Beziehungen von Menschen zu anderen Menschen, sie betrifft also Interaktionen, und sie enthält immer ein Moment von Gleichheit. Zentrale Frage ist, wie das „ius suum“, „sein Recht“, bestimmt wird.- 2. G. als Tugend: Nach klassischer Konzeption gilt G. seit der griechischen Antike als höchste Tugend im sozialen Zusammenleben. Sie stellt eine individuelle Haltung, Einstellung, dar, nach der ein Akteur die einzelnen Handlungen ausführt. Es werden zwei Formen von G. unterschieden: (1) Die iustitia commutativa, Tausch-G. oder ausgleichende G., regelt das Verhältnis zwischen Gleichen, im Tausch müssen Leistung und Gegenleistung (nach Auffassung der Tauschpartner) äquivalent sein. (2) Die iustitia distributiva, die zuteilende G. (nicht die Verteilungs-G., in die sie modern umgedeutet wird), regelt das Verhältnis zwischen Ungleichen wie z.B. zwischen Staat und Bürger und verlangt, dass die übergeordnete Instanz an verschiedene Menschen mit untergeordnetem Status ohne konkrete Gegenleistung so zuteilt, dass Menschen mit gleichem Status gleich behandelt werden (horizontale G.) und der Abstand zwischen verschiedenen Positionen angemessen berücksichtigt wird (vertikale G.). Über die Tugend der G. verfügt, wer nach diesen Grundsätzen handelt.- Diese Konzeption bleibt maßgebend bis ins 19. Jh.- 3. Soziale G.: a) In der heutigen Diskussion dominiert der Begriff der „sozialen G.“. Er taucht erstmals Mitte des 19. Jh. auf, als im Zuge der Differenzierung des gesellschaftlichen Subsystems Wirtschaft von der Handlungssteuerung auf Systemsteuerung umgestellt wird: Jetzt werden nicht mehr Handlungen, sondern Regeln bzw. Regelsysteme, nach denen die Handlungen in der Wirtschaft erfolgen, auf ihre G. befragt. Dazu gab die Soziale Frage des 19. Jh. die unmittelbare Veranlassung. Bis heute ist umstritten, ob und ggf. wie man eine Handlungskategorie auf eine Systemkategorie umformulieren kann.- b) Bis etwa 1970 hat man versucht, die G. eines Systems, konkret der ⇡ Marktwirtschaft (aber auch der früheren ⇡ Zentralverwaltungswirtschaft), an bestimmten gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnissen festzumachen; man spricht hier auch von Verteilungs-G. Bestimmte Verteilungsprofile (Verteilung) wurden normativ ausgezeichnet, und es war Aufgabe der Politik, diese herbeizuführen. Als normativer Maßstab galt – zumindest regulativ – praktisch immer die Gleichverteilung, wenn man auch aufgrund pragmatischer, eigentumsrechtlicher und anderer Gesichtspunkte Abstriche hinzunehmen bereit war. Sozialpolitik mit Einkommensumverteilung und ⇡ Wohlfahrtsstaat sind z.T. in diesem Geist gedacht.- c) Diese Konzeption der G. als Ergebnis-G. muss, wie um 1970 deutlich wird, aus systematischen und pragmatisch-politischen Gründen scheitern. (1) Infolge ungleicher Anfangsausstattungen verlangt die Herstellung (annähernd) gleicher Verteilungsresultate die Ungleichbehandlung der verschiedenen Akteure, womit eine grundlegende Forderung der G. verletzt wird. (2) Da ⇡ Allokation und ⇡ Distribution systematisch interdependent sind, kann eine größere Annäherung an die Gleichverteilung zu Wachstumsschwäche und Armut führen. (3) Es ist unangemessen, einen Marktprozess, in dem sich das Ergebnis als nichtintendiertes Resultat zahlloser Handlungen von Individuen ergibt, die ihre eigenen Ziele verfolgen, als Modell der zuteilenden G. zu denken, weil es niemanden gibt, der zuteilt. (4) Der Begriff „soziale G.“ lässt sich im politischen Kampf zur Rechtfertigung von Gruppeninteressen missbrauchen.- Damit war eine theoretisch überzeugende Umformulierung einer Handlungskategorie auf eine Systemkategorie immer noch nicht gelungen. So ist der Begriff soziale G. für ⇡ Hayek so unsinnig wie der Ausdruck „ein moralischer Stein“.- d) Rawls erklärt 1971 (A Theory of Justice) die G. zur „ersten Tugend sozialer Institutionen“ und berücksichtigt durchgängig die Interdependenz von Allokation und Distribution. Die Gleichheit aller Menschen besteht darin, dass sie moralische Subjekte sind. Daraus folgert er, dass die Gleichheit in der Verteilung der Grundgüter – ⇡ Freiheit, Chancen, ⇡ Einkommen und ⇡ Vermögen – zwar zum gedanklichen Ausgangspunkt der normativen Theorie der G. genommen wird, aber eine Ungleichverteilung der Grundgüter Chancen, Einkommen und Vermögen – nicht jedoch der Freiheit – dann als gerecht gelten kann, wenn die Benachteiligten dadurch größere Vorteile erzielen als durch (größere) Gleichverteilung (⇡ Konsensethik).- Rawls befindet sich auf dem Weg von einer Ergebnis-G. zur Verfahrens-G. Ungleiche Anfangsausstattungen, z.B. besondere Begabungen, werden nicht mehr neutralisiert, sondern als „Social Asset“ begriffen, als Kapital, das den Benachteiligten Nutzen bringen kann und deswegen gesellschaftliche Förderung verdienen kann. Rawls formuliert mit dieser Konzeption von sozialer G. die Sozialphilosophie wohlfahrtsstaatlicher Demokratien westlichen Musters.- e) Eine schlüssige Theorie sozialer G. legen Brennan und ⇡ Buchanan 1985 vor. Sie stellen stärker noch als Rawls auf Regeln und ihre G. ab.- Handlungen sind gerecht, wenn sie Regeln folgen, G. gibt es nur „within Rules“. Es sind die Regeln, die das „ius suum“ Ulpians definieren, denn sie formulieren die „berechtigten Erwartungen“ der Akteure. Bei der sozialen G. geht es aber um die Frage, wann die Regeln – die Institutionen, das Wirtschaftssystem – als gerecht beurteilt werden können. Hier finden Brennan und Buchanan den Weg, Regeln dann als gerecht zu beurteilen, wenn sie höheren Regeln, Metaregeln, entsprechen. Sie können so den Gedanken festhalten, dass G. grundsätzlich Regeln – qua Formulierungen berechtigter Erwartungen – voraussetzt, und sie können Regeln selbst auf ihre G. hin beurteilen. Sie gelangen über die Vorstellung einer Regelhierarchie letztlich zur „Verfassung“, in der die „berechtigten Erwartungen“ der Mitglieder einer Gesellschaft per Konsens festgelegt sind. Die letzten Maßstäbe für G. finden sich weder in der Gesellschaft externen Instanzen (⇡ Ethik) noch in ausgezeichneten Ergebnissen (Verteilungsprofile), sondern allein im Verfahren der Verfassungsgebung und Verfassungsentwicklung. Da nicht jeder Austausch schon eine gemeinsame Verfassung im formalen Sinn voraussetzt, hängt dieser Prozess von der Stärke der faktischen Interdependenzen in Gesellschaften, also von gemeinsamer Geschichte und Kultur, von der Intensität der Wirtschafts- und Kommunikationsbeziehungen etc. ab.- Vgl. auch ⇡ Ordnungsökonomik.- 4. Neuere Entwicklungen: Es sind vier neuere Entwicklungen im Diskurs über G. zu vermerken. a) Gegen die traditionell universalistische Auffassung von G. auf der Grundlage des Gleichheitsgedankens machen Autoren wie Elster und Walzer lokale G. geltend. Das „ius suum“, die berechtigten Erwartungen, werden hier als abhängig z.B. von Traditionen oder Kulturen, auch Organisationskulturen interpretiert. Der Gedanke interkulturell verschiedener Moralstandards wird intrakulturell auf die verschiedenen kleineren sozialen Einheiten bezogen. Hier setzt eine empirische Gerechtigkeitsforschung an.- b) Es ist die Frage, ob sich die Kategorie soziale G. auf die Beziehungen zur Dritten Welt anwenden lässt. Dies hängt von der Intensität der faktischen Beziehungen ab: Es scheint, dass sich die Interdependenzen global so entwickeln, dass Staaten der Dritten Welt allmählich zu Partnern in einem – expliziten (internationale Verträge) oder impliziten – Welt-Gesellschaftsvertrag werden. Aus solchen Fakten entwickeln sich allmählich berechtigte Erwartungen, die dann in förmliche oder informelle Verfassungen einmünden (können).- c) Im Kontext der Diskussion um ⇡ Nachhaltigkeit wird das Konzept einer intergenerationellen G. diskutiert. Hier tritt ein ähnliches Problem auf wie früher bei der sozialen G.: Das damit indizierte Problem ist unstreitig vorhanden, aber es ist noch schwierig, dem Begriff einen hinreichend präzisen Sinn zu geben.- d) Ganz Ähnliches gilt für Versuche, eine G. gegenüber Tieren – und der „Natur“ – zu formulieren.- Vgl. auch ⇡ Verteilungspolitik, ⇡ Gleichheitsprinzip, ⇡ Ordnungsökonomik. Literatursuche zu "Gerechtigkeit" auf www.gabler.de
Lexikon der Economics. 2013.